36 Lebensgeschichten von älteren Völser Bürgerinnen und Bürgern

Vorwort der Verfasser

 

Die hier gesammelten Lebensgeschichten älterer Völser betreffen die Geburtsjahrgänge zwischen den 1920ern bis zu den 1950ern. Grundlage der nun als Buch vorliegenden Sammlung bilden Interviews, die im Zeitraum Februar bis Mai 2022 durchgeführt worden sind.

Das Auswahlkriterium der Interviewpartner hing von einigen Faktoren ab: von ihrer Disposition und Erreichbarkeit, ihrem Alter, aber auch von ihrer beruflichen Situation, sollten die geschilderten Lebenserfahrungen doch ein breiteres Spektrum der dörflichen Realität des zwanzigsten Jahrhunderts abdecken. Dem Geschlecht der Teilnehmenden wurde insofern Rechnung getragen, als ein ausgewogenes Verhältnis repräsentiert werden sollte. Auch etwaige besondere Funktionen in der lokalen Gemeinschaft sollten abgebildet werden. Weiter kamen natürlich auch Zufallsfaktoren mit ins Spiel. Zusammenfassend können wir sagen, dass wir uns bei den Interviews bemüht haben, über die Art der Fragestellung ein der damaligen Realität entsprechendes Bild einzufangen.

Der Auswahl der Interviewpartner lag also, wie angemerkt, kein wissenschaftliches Kriterium zugrunde. Sie möge Facetten realer Lebensumstände widerspiegeln und Achtung vermitteln über die lebensgeschichtlichen und beruflichen Leistungen unserer Mitbürger in harten Zeiten und unter widrigen Umständen.

Völs war im beginnenden 20. Jahrhundert ein kleines Bauerndorf, das nur etwa die Hälfte der heutigen 3.600 Einwohner zählte. Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen waren die Höfe klein und kaum imstande, mit ihren kargen Erträgen die damals noch kinderreichen Familien zu ernähren. Deshalb verdingten sich viele Bauern als Knechte und Tagewerker bei Großbauern. Sie bekamen einen geringen Lohn oder wurden in Naturalien abgefunden.

Völs war, bis 1953 die Völserstraße nach Blumau eröffnet wurde, nur von Norden auf einer Schotterstraße über Kastelruth und Seis erreichbar. Zwei Materialseilbahnen, die von Atzwang nach Völs (beim Winterle – heute Bar Flora) und jene nach Konstantin, versorgten die Völser mit dem Nötigsten. Wenn man „in die Stadt“, also nach Bozen musste, ging man zu Fuß von Völs nach Steg oder Atzwang und nahm dort den Zug. Ging man zum Viehmarkt oder zum Scheidle nach Klausen, so bestieg man den Zug ebenfalls in Steg und Atzwang oder an der Kastelruther Haltestelle. Es war auch Brauch, dass man nach der Hochzeit in der Kirche und nach einem Frühstück zum Fotografen in die Stadt fuhr. Man ging also zu Fuß, bei Schnee, Gewitter und Regen nach Steg oder Atzwang und fuhr in die Stadt, um sich beim Waldmüller in der Museumstraße „ablichten“ zu lassen. Nach einem Mittagessen beim Rössl in der Bindergasse oder beim Sargant ging`s wieder nach Hause, wo man todmüde, nass und durchschwitzt ankam und mit der üblichen Tagesarbeit fortfuhr.

Die 30er Jahre waren eine politisch wie wirtschaftlich äußerst schwierige Zeit. Die Wirtschaftskrise der 1930er Jahre machte sich auch in Völs bemerkbar: Es gab keine Arbeit und, wenn man nicht der faschistischen Partei angehörte, keine Unterstützung durch den Staat. Aus purer Not haben die Familien ihre Kinder bei den Piccole Italiane oder den Ballila eingeschrieben, damit sie zur Mensa zugelassen wurden und eine warme Mahlzeit erhielten.

Durch die Lex Gentile wurde die deutsche Schule 1923/24 beginnend bei der ersten Klasse abgeschafft. Erst nach der Option 1939 wurden für die Deutschoptanten Deutschkurse eingerichtet. Auch die Völser Kinder haben in der rein italienischen Schule Lesen und Schreiben in italienischer Sprache gelernt, hatten aber große Lücken im Deutschen. Das Schulklima wurde von den meisten aber als angenehm empfunden, da die Lehrer meist kinderlieb waren und ihrerseits wegen ihrer politischen Einstellung strafversetzt worden waren. Besonders in Erinnerung blieben vielen Völsern die Lehrerinnen Maria und Nerina Casati und Frau Gilmozzi.

Die Faschisten waren in Italien durch den „Marsch auf Rom“ im Jahr 1922 an die Macht gekommen und ließen in Bozen das uns allen vertraute „Siegesdenkmal“ errichten. An Stelle eines Bürgermeisters bekam auch Völs einen Podestà, so dass es für die Bürger fast unmöglich war, mit der staatlichen Behörde zu verhandeln. Die Faschisten unterstützen alle italienisch gesinnten Bürger und schlossen alle anderen von der staatlichen Unterstützung aus. Aus diesem Grund sind auch viele Handwerksbetriebe aus Mangel an Arbeit und Unterstützung in Konkurs gegangen. Auch die Sennereigenossenschaft der Bauern musste aus diesen und anderen Gründen den Konkurs anmelden. Bei der Option im Jahr 1939 entschied sich der Großteil der Völser Bürger in der Hoffnung auf ein besseres Leben für die Auswanderung ins Deutsche Reich; nur einige wenige, die über mehr Informationen verfügten und dem „Führer“ misstrauten, stimmten fürs Dableiben. Arme und mittellose Familien verließen in der Folge das Land; die begüterten Bauern blieben zurück. Durch den beginnenden Krieg 1939 kam die Auswanderungswelle zum Erliegen.

Ein besonders ergreifendes Schicksal ereilte in jener Zeit die Familie eines Völser Tischlers. In den dreißiger Jahren ging sein Betrieb aus Mangel an Aufträgen in Konkurs, er wurde bei Kriegsbeginn in den Krieg einberufen und die Frau blieb mit ihren fünf Kindern mittellos zurück. Sie verzweifelte in ihrer Not und kam in die Irrenanstalt nach Hall. Der Mann fiel im Krieg, von der Frau verlor sich jede Spur und die fünf Kinder wurden auf verschiedene Südtiroler Familien verteilt. Ein Völser Kriegsschicksal stellvertretend für viele andere.

Die Kinder der „Deutschoptanten“ wurden in den Krieg eingezogen und mussten an die West- oder Ostfront. Zahlreiche Völser Familien haben ihre Väter, Brüder und Söhne im Krieg verloren. Oft erst Jahre nach dem Krieg kamen die Überlebenden aus der russischen oder amerikanischen Gefangenschaft zurück.

Die Nachkriegszeit brachte ein Aufatmen: Langsam kam die Wirtschaft wieder in Fahrt, man baute aus und um, gab und bekam Arbeit und stieg langsam von dem Getreideanbau auf die Milchwirtschaft um.

Zudem wurde 1953, wie angemerkt, die Bozner Straße eröffnet. Die ersten Völser stiegen von den Fuhrwerken auf Autos und Lastautos um. Zu jenen Zeiten gab es noch keinen öffentlichen Personentransport. Die Frächter stellten an Sonn- und Feiertagen Bänke auf die Ladeflächen ihrer Lastautos, verschraubten sie am Boden und luden die Passagiere zu einer Dolomitenfahrt, ins „Faschatal“ (Fassa) zu ihren Viechern oder einfach nach Bozen ein. Erst in den frühen 50er Jahren fuhr ein öffentlicher Personentransportdienst, die SAD, zweimal täglich die Passagiere nach Bozen und zurück. Besonders an Samstagen und Markttagen waren die Busse überfüllt; auf der hintersten Bank saßen meist die Grampen mit ihrer Butter, den Eiern, dem Speck und gackernden Hühnern. Die mussten sie lebend zur Kundschaft nach Bozen bringen, damit man den Käufern nicht etwa verdorbenes Hühnerfleisch unterjubelte. War man als Fahrschüler im Bus, musste man eine Henne auf dem Schoß halten, wollte man einen Sitzplatz besetzen.

Nun kamen auch die ersten Touristen ins Land. Vor Schulbeginn am Nachmittag um 13.45 Uhr erwarteten die Schulkinder den Bus aus Bozen, um festzustellen, ob diesem etwa „ein Fremmer“ entstieg. War dies der Fall, kam der alte Schaller, der facchino (Laufbursche), und begleitete den Fremmen mit den Koffern auf seiner „Radlbega“ (Schubkarre) zu den Gasthöfen Turm, zur Traube oder Wenzer. Da die Gasthäuser die zunehmende Flut an Touristen nicht mehr aufnehmen konnten, entwickelte sich die Privatzimmervermietung: Jeder, der ein halbwegs standfestes Bett hatte, vermietete an Touristen. Eltern stellten ihre Ehezimmer zur Verfügung, übernachteten in der Garage oder im Heizraum; die Kinder wurden sowieso ausquartiert, kamen „in die Kolonie“ der Cartias nach Cesenatico oder Grado oder, wenn sie zuhause nicht gebraucht wurden, zum Mithelfen zu Verwandten. Nun kam Geld ins Haus und man baute aus und um.

Politisch waren die Zeiten ruhiger geworden. Man war froh, die düsteren Jahre des Faschismus und des Nationalsozialismus überwunden zu haben und konzentrierte sich mehr auf den wirtschaftlichen Aufschwung als auf die Politik. Einige Völser Bürger nahmen an der Kundgebung 1956 in Sigmundskron teil; im Übrigen pflegte man die Bräuche und nahm aktiv am Vereinsleben teil.

Einer Erwähnung wert ist die damalige Rolle der Fraut:
Das Leben der Frauen war in buchstäblichem Sinn fremdbestimmt. Die weichenden Erbinnen der Höfe sollten nach Abschluss der Pflichtschule kochen, nähen und wirtschaften lernen und zu Hause helfen, wenn sie gebraucht wurden. Nur im Winter, wenn es am Hof weniger Beschäftigung gab, durfte man auf den Dienst, bei einem Bauern oder einer Familie in der Stadt und später als Zimmermädchen ins Hotel. Die Löhne waren niedrig, aber in jedem Fall höher als zu Hause; dort gab es als Entlohnung nur Kost und Logis. Ziel aller Mädchen war die Heirat mit einem „guten“ Mann. War man unbescholten und anständig, sahen die Chancen gut aus. Junge Mädchen hatten sehr auf ihren Ruf zu achten, denn es gab nichts Verwerflicheres als ein lediges Kind. „Gefallene Mädchen“ wurden nicht selten von zu Hause fortgejagt, vom Kindsvater in der Regel gemieden oder verleugnet und mussten allein für sich und das Kind aufkommen. Die Kinder wuchsen meistens in einer Pflegefamilie auf. Eine Braut sollte bei ihrer Hochzeit noch keusch und unbescholten sein; darüber wachte besonders die Geistlichkeit. Als verheiratete Frau sollte man dann möglichst jedes Jahr oder jedes zweite ein Kind bekommen, denn „viele Kinder ergeben viel Gottesvolk“. Auch hat sich noch bis in die 60er Jahre hinein der Brauch der Aussegnung der Mutter nach der Geburt eines Kindes gehalten: Erst nach einem feierlich inszenierten Segen durch den Pfarrer vor der Kirchentür war sie „gereinigt“ und wieder würdig, das Gotteshaus zu betreten. Natürlich lag diesen strengen Geboten immer der Grundsatz zugrunde, dass die Fassade stimmen musste. Wie es der Einzelne mit Ethik und Moral wirklich hielt, stand auf einem ganz anderen Blatt. Der Spruch „Auf der Alm gibt`s koa Sind“, kommt wohl nicht von ungefähr.

Selten durften Mädchen einen Beruf erlernen oder gar studieren. Die Bauernbuben ihrerseits kamen nur als Priesteranwärter zu einem Studienabschluss oder weil sie, sofern es die Familien „vermochten“, rechtzeitig auf die öffentliche Schule überwechselten.

Weichende Erben hatten nicht viel zu erwarten, denn nach dem „Gesetz des Geschlossenen Hofes“ wurde der Hof seit den Zeiten von Maria Theresia dem ältesten Sohn vererbt; die weichenden Erben bekamen nur den Ertragswert und nicht den eigentlichen Wert des Hofes ausbezahlt. Und das war wenig; häufig nicht mehr als der Gegenwert einer Kuh. Oft hat die Hofübernahme unter sonst in Frieden lebenden Geschwistern Zwietracht und Streit gebracht, die bis zum obersten Gerichtshof gingen und aus dem einzig und allein die Advokaten ihren Nutzen zogen.

Ein Mädchen sollte in jedem Fall also keine weiterführende Schule besuchen, „da sie eh heiratete“. Außerdem wurde sie, wenn sie studieren wollte, verdächtigt, arbeitsscheu zu sein. Nur einige wenige Mädchen dieser Jahre konnten zu Hause eine freie Berufsentscheidung durchsetzen.

So wurden die Frauen jener Zeit mehr fremdbestimmt als heute; trotzdem haben nicht wenige Frauen, wie es aus den Interviews deutlich wird, mutig, zäh und geduldig ein relativ selbstbestimmtes Leben geführt.

Erwähnt werden muss auch, dass der Alkoholmissbrauch bei der ländlichen Bevölkerung weit verbreitet war. Wenn ein Mann viel Wein vertragen konnte, war er ein Kerl. Nicht selten haben vor allem Männer ihre Sorgen im Alkohol ertränkt oder ihr Kriegstrauma auf diese Weise irgendwie in den Griff zu bekommen beziehungsweise zu betäuben versucht. Man muss sich einmal vorstellen, wie viele Männer von Krieg und Gefangenschaft gezeichnet nach Hause kamen und keine Möglichkeit fanden, dieses Trauma zu verarbeiten. So kamen Männer oft betrunken nach Hause und agierten sich je nach Charakter unterschiedlich aus. Ganz schlimm war es für die Kinder, wenn Frauen tranken. Auch das kam vor.

Marta Mulser, Elmar Perkmann

 

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Die Interviews wurden von Paul Mitterstieler und Marta Mulser durchgeführt; Marta Mulser und Elmar Perkmann haben die Texte nachbearbeitet. Unterstützt wurde das Projekt weiter von Josef Nössing. Die fotografische Gestaltung übernahm Benjamin Oberkircher.

Um den Lesefluss nicht unnötig zu verzögern und die Satzkonstruktionen zu verkomplizieren haben wir uns dafür entschieden, die traditionelle Schreibweise zu verwenden. So lassen sich männlich anmutende Begriffe, die in der Vergangenheit zumeist geschlechtsneutral verwendet wurden, je nach Zusammenhang problemlos auch in weiblicher Konnotation verstehen.

Bei der Getrennt- und Zusammenschreibung von Höfe- und Eigennamen wurde die Getrenntschreibung vorgezogen, wenn auch nicht ausschließlich. So haben wir zum Beispiel das Wortpaar Wenzer Edl getrennt geschrieben, um dem Vornamen eine gewisse Eigenständigkeit zukommen zu lassen, auch wenn wir im Volksmund die beiden Wörter zu Wenzeredl verschleifen und dabei die erste Silbe betonen. Bei den Hofnamen haben wir das Grundwort -hof mit dem Bestimmungswort des Hofnamens verbunden: Gatterpunerhof.

 

 

Ab und zu wurde der bayrische Å-Laut (wie in i hån = ich habe) verwendet, allerdings sparsam und in der Regel nur zur Unterscheidung (Grått – Grottner usw.) oder um Wörter in Dialektsätzen in korrekter Lautung wiederzugeben: „Früher håt die Natur a Ruah ghåb“ wie im Interview mit Hugo Kritzinger.