Lehren - oder die Kunst, Fenster zu öffnen

Betrachtungen eines Lehrers auf dem Weg in den Ruhestand


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Interview in RAI SÜDTIROL am 14.10.2015 zum Buch (50 Min.)
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Auszug aus dem Inhalt

 


Was Kinder wirklich brauchen

 

Kinder verlangen durchaus nach intellektuellem Futter, nach brain-food sozusagen, dann, wenn es inhaltlich zu ihrer Erlebniswelt passt (die Inhalte werden aber ja von Erwachsenen festgelegt), abwechslungsreich daherkommt und in angemessenen Portionen serviert wird. Ein „gesundes“ Kind will gefordert sein. Es macht ihm Spaß, wenn es Aufgaben schafft und Hürden bewältigt. Noch viel wichtiger ist es ihm aber, die Beziehungen im schulischen Umfeld in positiver Weise leben und erleben zu dürfen. Eine „coole“ Lehrerin, eine tolle Arbeitsgruppe wirken als Katalysator und regen das Kind zu Leistungen sogar dann an, wenn der Inhalt unkindgemäß ist.

Kinder suchen Freundschaft und Anerkennung. Sie wollen ihren Platz in einem Kollektiv von Gleichaltrigen finden. Kinder wollen erfahren, wo die Grenzen sind, wie weit ihr Aktionsradius reicht. Wenn Kinder diese Sicherheit erfahren dürfen und dadurch die Möglichkeit geboten bekommen, zu innerer Sicherheit finden zu können, kehrt Ruhe ein und es werden Ressourcen für schulisches Lernen frei.

Als Lehrer/innen sind wir auf Inhalte bezogen. Wir definieren „Lehren“ als Vermittlung von Sachinhalten und kümmern uns darum, diesen Job bestmöglich zu erledigen, indem wir uns gewissenhaft vorbereiten, Kopien erstellen, die Unterrichtsphasen planen und Medien einsetzen, um „unsere Inhalte“ effizient zu vermitteln. Wenn die Schüler/innen dann bei den Überprüfungen in hohem Maß das reproduzieren, was wir ihnen beigebracht haben, sprechen wir ihnen – und uns – ein Lob aus und fühlen uns ok.  Wenn ein Kind das, was wir als wichtig erachten, in geringem Maß reproduziert, sind wir gekränkt, vielleicht auch verärgert, und geben eine schlechte Bewertung ab. Ein solches Kind wirft uns in unser eigenes Schüler-Ich zurück und verhilft unserem Nicht-Genügen, zu unserem Versagen, das vielleicht in unserer Biographie weit zurückliegt, zu einem unheilvollen Flashback. Offenbar hat unser Schüler-Ich nur geschlafen und lauert nur darauf, „getriggert“, zum Leben erweckt zu werden.

Was Kinder wirklich brauchen, ist die Begleitung eines Erwachsenen, wobei ich diesen Begriff ein wenig examinieren möchte:

Erwachsen sei doch jeder, der die 18 vollendet und überschritten hat, sagst du, und schaust mich achselzuckend, vielleicht auch kopfschüttelnd, an. Erwachsen eben. Da sei das mit dem Führerschein, die Auslandreisen ohne Eltern, die eigenmächtige Unterschrift unter der Absenz in der Maturaklasse.

Das schon. Das ist die staatsbürgerlich bescheinigte Volljährigkeit. Die meine ich aber nicht. Mit 18 ist mach doch nicht erwachsen. Jedenfalls nicht in dem Sinn, wie ich es hier verstehe, wenn ich davon rede, die Kinder brauchen einen erwachsenen Begleiter auf ihrem Weg in ihre, der Kinder, Erwachsenheit. Ich verstehe darunter, dass das hier zur Diskussion stehende Individuum seine eigene Biographie so weit reflektiert – und durchgearbeitet – hat, dass es einmal in seiner Geschlechtsrolle gefestigt ist, dass es sein eigenes Kind-Sein liebevoll integriert hat und seinen „Schmerzkörper“ (E. Tolle) zu nähren imstande ist, sodass er in wichtigen Bereichen nicht getriggert (aktiviert) werden kann oder muss. Wenn diese Voraussetzungen gegeben sind (das wird ohne Supervision oder Psychotherapie kaum möglich sein), ist das Individuum erst imstande, sein Gegenüber, und Kinder sind ein stark forderndes Gegenüber! – wahrzunehmen und mit ihm liebevoll und nährend zu interagieren. Ist der Weg dazu noch weit, wird bei bestimmten auslösenden Verhaltensweisen Vergangenheit aktiviert, die sich als, vernebelnder Schleier vor das Gegenüber schiebt und dieses verzerrt, entstellend und verbildend in der subjektiven Realität des Lehrers, der Lehrerin abbildet. Der Lehrer, die Lehrerin agiert und reagiert in diesem Zustand auf das eigene verdrängte Selbst bzw. auf schmerzhafte und nicht verheilte Teile davon. Führen und Begleiten ist in so einem Zustand schlichtweg nicht möglich. Wir leiden und verurteilen und verfolgen im kindlichen Schüler in Wahrheit uns selbst, zerren unser wundes Kind-Selbst aus der Vergangenheit in die Gegenwart, ohne uns dessen im Geringsten bewusst zu sein. Alle unsere Gespräche fruchten nichts, unsere Maßnahmen laufen ins Leere – weil sie den Falschen, die Falsche, treffen.

Falls ich überzeichnet haben sollte, dann nur ein klein wenig. Im Wesentlichen ist da nicht anders. Zu diesen Einsichten verholfen haben mir mein Psychologiestudium (ihr habt schon gemerkt, dass ich Fachchinesisch formuliert habe) und meine Therapieausbildung (das sage ich nicht aus Angabe – Achtung vor dem Triggger!), die Supervision und meine Erfahrung sowie die vielen vielen Konfliktgespräche mit Schülern und Schülereltern.

Unser Kerngeschäft sei doch das Unterrichten, sagst du?

Ja. Wir sind ja Lehrende. Nur ist da ein Haken: Wenn ich Bauer bin und das Mähen und Ernten beherrsche, kann ich meine Kompetenzen nur dann an den Mann bringen, wenn die Wiese in saftigem Grün steht. Damit will ich sagen: Falls Faktoren vorhanden sind – und die sind in der Regel vorhanden – die auf Schüler/innenseite Lernen verhindern, tue ich gut daran, die be- und verhindernden Ursachen ausfindig zu machen und so weit als machbar aufzulösen. Dann ist das Feld bereit, Saat aufzunehmen.

Dazu gehören auch die in Schulklassen mit Sicherheit auftretenden Störungen beziehungsmäßiger Art. Schulklassen sind „Zwangsaggregate“, will heißen, die Schüler haben sich im Gegensatz zu Peer-Groups nicht selbst ausgesucht. Zudem sind sie in einer Sitzordnung organisiert, die den Bedürfnissen des Lehrers, der Lehrerin bzw. des Klassenrates entspricht und nicht den Beziehungswünschen der Schüler selbst. Ich verstehe schon, dass wir dieses Arrangement „zum Besten“ unserer Schüler machen. Damit sie lernen und sich nicht gegenseitig behindern. Aber genau an dieser Aussage wird deutlich, wie sehr das schulische Lernen fremdbestimmt ist und von bestimmten Vorstellungen geleitet ist, deren oberste Priorität die Gewährleistung einer Haltung der Ruhe, vor allem auch der akustischen, und Ordnung ist. Schulisch organisiertes, staatlich oktroyiertes Lernen trägt somit nicht unbedingt (oft eher nicht) dem natürlichen Drang des Schülers, der Schülerin nach Wissen und Erfahrung Rechnung sondern steht vielmehr im Dienst einer von der Gesellschaft so gewollten Zwangsbeschulung.

Natürlich bin ich nicht so naiv zu glauben, es könne – unter gegebenen Voraussetzungen – gänzlich anders sein, finde es aber nützlich, dass wir uns der hier geschilderten Tatsachen bewusst sind, um unsere Wertung bei Auftreten von „Systemfehlern“ entsprechend anzupassen.

Störungen im sozialen System Schulklasse müssen ernst genommen werden, wollen nicht riskieren, einen Großteil unserer Energie mit ihrem Niederhalten zu verschwenden. Aber natürlich auch aus einem ganz anderen Grund: Wir wissen, dass Schülern im System Schulklasse eine einzigartige Gelegenheit geboten wird, soziale Erfahrungen zu sammeln, Methoden der Konfliktbewältigung, der Reflexion, des Ausdrückens von Befindlichkeiten und ein Erlernen des dafür nötigen Vokabulars. Kinder werden solcherart zu selbst-bewussten Individuen und werden dafür gerüstet, im beruflichen und privaten Umfeld „ihren Mann“ zu stellen.

Aber auch wir selbst können an diesen Situationen wachsen, wenn wir nur das in Konflikten und Schwierigkeiten verborgen liegende Potenzial erkennen und auch für uns nutzbar machen.

Vielleicht sagst du, du würdest dadurch viel Unterrichtszeit verlieren und kämst in dessen Folge mit dem Programm nicht zu Rande. Meine Erfahrung hat mich nach Überwindung solcher und weiterer Ängste gelehrt, dass dem nicht so ist: Die Schüler/innen zeigten eine größere Bereitschaft, sich mit schulischen Inhalten zu befassen, wenn die Beziehungen geklärt waren. Der reduzierte Widerstandspegel hatte einen größeren fachlichen Mehrwert zur Folge.

Vor allem männliche Schüler haben ein drängendes Bedürfnis nach Großräumigkeit: Ein im Vergleich zu Mädchen größerer spontaner (primär motivierter) Bewegungsdrang verlangt nach Entladung. Wenn von Seiten der Gesellschaft und von Sportverbänden eine Aufstockung der schulischen Sportstunden gefordert wird, entspringt das womöglich diesem Bewusstsein. Was Kinder aber mehr brauchen ist ein häufigeres Unterbrechen von Phasen der Konzentration mit einigen Bewegungsmomenten.

Ob Schüler/innen für ihr Wohlbefinden wie oft gefordert wirklich mehr Schulausflüge und –ausgänge benötigen, wage ich, wenn ich unser schulisches Anliegen der Vermittlung von Basiskompetenzen in die Waagschale werfe, zu bezweifeln. Der Mehrwert ist oft gering, wenn solche Aktivitäten auch eine Auflockerung in den Alltag bringen und bei Schüler/innen naturgemäß sehr beliebt sind. Dass wir als Lehrende und Begleitende dabei hohe Risiken eingeben, die von Versicherungen nicht zur Genüge gedeckt werden, steht auf einem anderen Blatt.

Was Schüler/innen zudem wirklich besonders nötig brauchen ist ein ausgewogenes Verhältnis von weiblichen und männlichen Lehrenden. Nur so können Jungen am männlichen, Mädchen am weiblichen Modell wachsen und reifen. Ich habe mich in meiner Unterrichtstätigkeit, besser gesagt in ihrem Pendant, der Erziehungstätigkeit, im Wesentlichen mit den Buben abgegeben im Bewusstsein, dass Buben eine männliche Beziehungsperson benötigen, und wissend, dass die Mädchen der Klasse diese Entwicklungsschritte mit meinen Kolleginnen machen können. Bekannt ist meine Forderung - eigentlich ist es mehr ein tastender Vorstoß, wissend um die nie ausbleibende Gegenwehr vor allem seitens der Mädchen, aber auch vieler Kollegen! – nach einer Trennung von Mädchen und Buben während eines Teils der Gesamtschulzeit. Viele durch die forcierte „Promiskuität“ provozierte Störungen könnten aufgefangen, in der Gleichgeschlechtlichkeit schlummernde Synergien für eine Festigung der Geschlechtsidentität genutzt werden. Buben gehören – vorwiegend – zu Männern, Mädchen – vorwiegend – zu Frauen. Das ist meine Devise. Die Zeit, die die Vermischung der Geschlechter aus damals gutem Grund gewollt hat, hat sich geändert. Nun ist angesagt, uns wieder auf die eigene Geschlechterrolle zu besinnen. Dass dieses mein Credo auf wenig Gegenliebe stößt, habe ich schon angedeutet. Es würde mich aber freuen, wenn Experten und Schulleute Überlegungen in diese Richtung anstellen würden. Ich selbst bin der Überzeugung, dass Geschlechter sich nur im Umgang unter ihresgleichen weiblich oder männlich „aufladen“ können; Erfahrungen mit dem jeweils anderen Geschlecht bieten sich außerhalb zur Genüge. Diese Überlegungen tragen auch der psychophysischen Realität in der Vorpubertät Rechnung, wo gleichgeschlechtliche Beziehungen eine große identitätsstiftende Bedeutung haben. Das habe ich aber eingangs bereits festgestellt.

Kinder, und das sei abschließend festgehalten, freuen sich über und auf Lehrer/innen mit Humor, auf geistreiche Bemerkungen, Freundlichkeit und Herzlichkeit. Sie können wachsen und gedeihen, wenn ihnen ein grundlegendes Wohlwollen entgegengebracht wird, das auch die Stürme von Schwierigkeiten und Unbilden zu überdauern vermag.


Lehren - oder die Kunst, Fenster zu öffnen.

Betrachtungen eines Lehrers auf dem Weg in den Ruhestand


2015

194 Seiten

ISBN: 978-88-6563-131-7


25,00 €