Die Stimme der Schatten

Klappentext

Karl Lehmann, 33, ist Berufsberater im Landesdienst, Vater ei­nes Jungen und Magdas Ehemann. Er durchlebt gerade eine schwere seelische Krise, die ihn schließlich in eine innere Ver­einsamung führt. Nach und nach zieht er sich von der Außenwelt zurück und friert in diesem Zustand sozusagen ein.

 

Eines Dienstags fährt er wie üblich zur Arbeit in die Innenstadt. Diesmal ist es anders. Er unternimmt einen Selbstmordversuch, den er mit einer schweren Verletzung am Oberschenkel über­lebt. Eine Begegnung im Krankenhaus und eine anschließende Psychotherapie machen Wege auf, die Karl L. an einen Wende­punkt führen. Durch die systematische Beschäftigung mit seinen Schattenteilen und der Erforschung und Integration der Vergan­genheit kann er seine Identität als Mann, Ehemann und Vater festigen und ausbauen.

 

Der Autor wickelt die Schritte in diesem Entwicklungsroman as­soziativ ab; eine Folge lose zusammenhängender Ereignisse und Bilderführen den Leser, die Leserin durch minutiös geschil­derte innere wie äußere Landschaften. Immer wieder werden seelische Zustände durch eingeschobene Erzählungen aus dem Bereich der Fiktion illustriert. Gedichte aus Karls Tagebuch reichern den Roman mit lyrischen Passagen an.

 

Das Buch ist für Menschen gedacht, die Interesse an psycholo­gischen und entwicklungs­geschicht­lichen Fragen mit philosophi­schem Hintergrund haben. Es schildert die Ereignisse aus der Perspektive eines Mannes. Nachdem es um allgemein menschli­che Themen geht, dürften sich gleichermaßen Männer wie Frau­en ein Stück weit darin wiederfinden.



Textauszug



Nacht über der Stadt mit Sternen, die unruhig flackern und im roten Nebelstreif am Horizont ertrinken. Ein weicher Wind bauscht die Vorhänge wie weiße Segel.

 

Markus schläft, auch Magda, sie atmet flach, beinahe unhörbar, schläft tief und schwer. Karl hat die Nachttischlampe ausgeknipst, steigt lautlos aus dem Bett und in die Hausschuhe, streift sie wieder ab und tastet sich barfuß durch das Zimmer an die Balkontür.

Es ist lau heute Abend, Mitte März, und die Sterne über der Stadt formen eine Straße, die er kennt.

 

Ein Auto biegt von der Hauptstraße ab und dreht mit grellen Scheinwerfern in die Wohnblockzeile ein. Trotz der Höhe kann Karl deutlich das Knirschen von Kies unterscheiden, wie der Wagen in die Zufahrt zum gegenüberliegenden Wohnblock einschwenkt und vor dem Garagentor ins Stehen kommt. Die Ampel auf der leeren Kreuzung zur Hauptstraße schaltet wieder auf grün, ohne jeden Sinn.

Flatterschatten, zu schnell, um ihm mit den Augen folgen zu können, stürzt, sich überschlagend, nach unten und zur Seite: eine Fledermaus auf nächtlicher Jagd.

 

Karl fröstelt und er sucht sich den Weg zurück durch die Pirouetten drehenden leichenfarbenen Stores, die, aufgewühlt vom stärker werdenden Wind, in der Türöffnung spielen. Ihn fröstelt in dem leichten Schlafanzug, und er legt sich zurück ins Bett. So liegt er wach, die Hände hinter dem Nacken verschränkt, bringt seinen Atem zur Ruhe, atmet den Rhythmus seiner schlafenden Frau. Ganz flach atmet sie. Ob sie wohl träumt?

Ob sie wohl träumt? Und er stellt sich einen Traum vor, einen hausgemachten, einen, den er in dieser lauen Märznacht spinnt und webt, einen, den er träumen möchte heute Nacht und in jeder folgenden, unaufhörlich, Nacht für Nacht.

 

 

Er hat durch einen der meterdicken Steinbogen die Arena betreten, durch den sich ein kühler Luftzug zwängt, die hohe Steintreppe hinauf durch den nach Moder und Urin riechenden Dämmer, der nur spärlich ausgeleuchtet wird von sattharzigen Steckfackeln, die knistern und sprühen und Garben blauroter Flämmchen ins Dunkel schießen. Hinauf in die plötzliche gleißende Helligkeit, die sich oval und weiß vor ihm öffnet wie ein gigantischer Spiegel. Im schützenden Torbogen verharrt er für ein paar Augenblicke, um seinen schmerzenden Augen Zeit zu geben, sich an die Helligkeit anzupassen und er blinzelt, atmet tief durch in Erwartung des tosenden Beifalls, der Zurufe derer, die ihn schon seit geraumer Zeit erwarten. Dann schiebt er die hölzerne Barriere beiseite, die ihn noch von der Menge trennt und steigt in den Kampfplatz, ein strahlendes Lächeln; ein maurischer Prinz, einem Märchen entsprungen.

Und da setzt er ein, der gewaltige Applaus, Mädchen in weißrüschigen Blusen beugen sich waghalsig vor, werfen ihm Kusshände zu, glühende Blicke. Und er fühlt, wie das Blut rauscht und pumpt, dröhnt und pulst: Er tritt auf, der Konquistador, Diego Canberra, den jeder kennt zumindest dem Namen nach, vom Golf im Norden bis ins Maurische hinunter, bis Cádiz. Diego, der Matador!

Und der schwarze Stier wirft mit dem Vorderhuf gelben Sand auf und starrt ihm blutäugigen Blickes entgegen.

 


Unveröffentlicher Roman. Veröffentlichung geplant für 2016