Auszug

 

Obwohl, eigentlich war ich, soweit ich mich erinnere, ein durchwegs frommer Knabe und dem Handwerk des Minist- rierens aufrichtig zugetan. Und nicht nur, wie manche behaup- teten, des Lohnes wegen, der an besonderen Festlichkeiten für uns Messdiener abfiel, sondern deshalb, weil bei den Messen, besonders aber in der Sakristei, immer etwas los war. Wenn der Mesner einmal zu irgendeiner Verrichtung nach draußen in den Kirchenraum ging, machten wir frommen Knaben uns in gezielten Abläufen über den Messwein her. Nicht zu viel, da- mit der Mesner am gesunkenen Pegelstand in der Glaskaraffe es nicht mitbekam, aber auch nicht so wenig, dass es sich nicht auszahlte. Es mag schon sein, dass die eher häufigen Schläge- reien in der Sakristei ursächlich mit Sylvaner zusammenhin- gen, der von Pfarrer bevorzugten Sorte aus seinem Mutterklos- ter Neustift. Einmal eskalierte das Geschehen bedrohlich und lief fast aus dem Ruder, bevor der Mesner einschritt und uns grob auseinanderklaubte, als sich mein Bruder und ich darum balgten, wer von uns beiden sich den Gläubigen mit dem prestigeträchtigen Rauchfass präsentieren durfte, und wer sich mit dem „Schiffl“, dem Gefäß mit dem Weihrauch, bescheiden musste. Einer gewann, und wir hassten uns durch die gesam- te Messe, mein Bruder und ich. Die anderen acht Ministranten amüsierten sich köstlich, und der eine hielt zu dem einen, zu mir, und die anderen zu meinem Bruder, die Blöden. Für den Pfarrer selbst war es nur wichtig, dass das Rauchfass ordentlich qualmte, andernfalls gab es eine milde Schelte. Im geschilderten Fall hat der eine Bruder aus purer Bosheit dem anderen, dem Gewinner, dem Rauchfassträger, als es drauf ankam so sparsam Weihrauch ins Fass gekrümelt, dass von Rauch so gut wie nichts zu sehen war und sich lediglich ein dürftiges blaues Räuchlein nach oben kringelte, was die Effektivität des Gottesdienstes in der Auffassung des Pfarrers auf unzulässige Weise verringerte. 
Die wunderschöne barocke Orgel mit den nackigen Engelchen und den honorigen goldenen Trompetenengeln war zur dama- ligen Zeit noch nicht elektrifiziert. Meinem Bruder und mir fiel nun, ich weiß nicht mehr ob nur ausnahmsweise, die Aufgabe zu, den gewaltigen Blasbalg, der in einem eigenen Raum hinter der Orgel untergebracht war, aufzupumpen, zu „melken“, wie der Fachausdruck dafür lautet. Da war eine Griffstange, an der man sich zwecks Potenzierung der Kraftentfaltung festhielt, und da waren zwei Pedale, die man durch Draufsteigen und Hi- nunterdrücken mittels Abstemmen an der Griffstange betätigte. Das Ganze war nicht ohne Kraftaufwand zu bewältigen, will sa- gen, wir hatten ordentlich zu schwitzen. Und weil Erbringung von Arbeitsleistung mit dem Wesen eines Knaben inkompatibel ist, fingen wir Brüder, während draußen in der Kirche das Brau- sen der von uns gespeisten und von Vater bedienten Orgel das Lob Gottes verkündete, uns erst zu zanken, dann zu prügeln an. Weil wir dazu sowohl die Arme als auch die Beine benötigten, ließen wir das Melken Melken sein und wälzten uns, ineinan- der verkrallt, auf dem Boden, wobei mein Bruder in der ihm eigenen Kampftechnik abwechselnd zubiss und dann, sich auf dem Rücken drehend, mit den Füßen um sich trat und mich solcherart vom Leib hielt. Unsere Keilerei hatte zur Folge, dass der Druck im Blasbalg nach Aufbrauchen der Luftreserve ste- tig abflachte, bis er nur mehr ein leises Lüftlein von sich gab, wodurch das anfängliche Lob-Gottes-Schmettern in einem kläglichen und schlussendlich ersterbenden Wimmern verebb- te. Als Vater, bedingt durch die liturgische Dramaturgie, eine kleine Pause hatte, schnellte er in die Orgelpumpstation wie der sprichwörtliche Schneider bei Wilhelm Busch in die Stub. Und, siehe da: Nach einer kurzen intensiven Intervention lief alles wieder wie geschmiert und das Lob Gottes ertönte, als sei nichts gewesen, in brausender Fülle.